Authentizität: Muss ich in die Kamera weinen, damit du mir vertraust?
„Damit du auf Social Media erfolgreich bist, musst du authentisch sein.“
Das haben uns Marketingtrainerinnen nah und fern erzählt. (Ich übrigens auch.)
„Du musst schon professioneller wirken“, hieß es dann, als wir in die Kamera weinten.
Und dann kam mein Lieblings-Marketer Seth Godin und sagte „Authentizität wird total überschätzt. Wären wir wirklich authentisch, würden wir uns alle wie Kleinkinder verhalten.“
Also etwa so:
@hashtagbiancafritz Kleinkinder sind 100 Prozent authetisch. Wenn du dich mit deinem Marketing als Dienstleister siehst, kannst du also nicht immer authentisch sein.
♬ original sound - ཌ♛𝖙𝖍𝖊•𝕾𝖈𝖔𝖗𝖕𝖎𝖔𝖓♛ད
Höchste Zeit also, dass wir uns das „überschätzte Konzept“ der Authentizität einmal genauer ansehen. Was ist authentisch? Wie viel Authentizität brauchen wir? Und kann das überhaupt jeder? Sich authentisch zeigen?
Inhaltsverzeichnis
Was ist Authentizität? Und warum ist sie auf Social Media so wichtig?
Unter authentischem Marketing versteht man Marketing, das auch Ecken und Kanten zeigt. Nicht nur mit Photoshop bearbeitete Hochglanzfotos. Authentisches Marketing zeigt den Menschen hinter der Marke. Mit seinen Stärken – aber auch mit seinen Schwächen. Damit wir eine Person auf Social Media als authentisch empfinden, muss sie aber nicht in die Kamera weinen. Es reicht, wenn sie sich im Live-Video auch mal verplappert oder einen kleinen Dialekt oder Sprachfehler hat. Wenn sich eine Person nicht verstellt, sondern echt und authentisch zeigt, ist sie automatisch nahbarer. Die Social-Media-Follower*innen haben das Gefühl, die Person zu kennen. Nähe und Vertrauen entstehen. Was sowohl beim Verkaufen als auch bei der Reichweite der Beiträge hilft. Denn wer sich authentisch zeigt, erhält mehr Kommentare, Likes und Shares.
Wie viel Persönliches muss ich von mir preisgeben, um authentisch zu sein?
Das Beispiel mit dem Sprachfehler im vorherigen Absatz zeigt schon: Du musst nichts über dein Sexleben ausplaudern und auch nicht deine Kinder in die Kamera strecken, um als authentisch wahrgenommen zu werden. Es reicht im Prinzip schon, dass du dich weniger verstellst.
Aber Achtung: Das klingt jetzt sehr viel leichter als es wirklich ist. Denn es heißt ja auch: Du musst dich selbst KENNEN, um dich so zu zeigen, wie du bist. Und du musst dann auch noch den Mut haben, damit nach draußen zu gehen. Nicht umsonst verknüpfe ich in meinem Jahresprogramm „Create and Shine“ Marketing und Persönlichkeitsentwicklung. Denn in die Sichtbarkeit zu gehen ist eine große Wachstumsaufgabe. Und jedes Mal, wenn wieder ein neuer Schwung an Follower*innen dazu gekommen ist, schlottern dir vielleicht wieder die Knie, wenn du etwas teilst.
Wie viel Persönliches du letztendlich preisgibst, hängt auch damit zusammen, ob du selbst das Gesicht deines Unternehmens bist und wie eng man mit dir zusammenarbeitet. Wenn du Coach, Trainerin oder Berater bist, ist deine Persönlichkeit sehr wichtig. Hier reicht es NICHT, wenn du nur über dein Themengebiet und dein Angebot sprichst. Du solltest auch zeigen, was dich antreibt, deine Geschichte erzählen und auch die kleinen Macken oder Markenzeichen zeigen, die dich von anderen Coaches, Trainer*innen und Berater*innen unterscheiden. Bist du der Lifecoach, der nie ein Kelly-Konzert verpasst? Die Ernährungsberaterin mit den verschiedenenfarbigen Socken? Der Kanu-Leih-Service mit dem Sammel-Tick für Espressotassen?
Was macht dich im wahrsten Sinne des Wortes MERK-würdig? Wenn jemand sich nicht an deinen Namen erinnert, was sagen andere über dich? „Das ist die mit …?“. Spiel mit diesen Dingen.
Anders sieht es natürlich aus, wenn du einen kleinen Metallhaken verkaufst, mit dem man die Haare aus dem Abfluss fischen kann. Auch hier ist ein Blick hinter die Kulissen deines Unternehmens zwar noch spannend. Und wir wollen auch die Geschichte hören, wie es zu dem Produkt kam. Aber wir müssen nicht unbedingt wissen, was die Chefin zu Mittag isst und wohin sie in die Ferien geht.
Kann man auch zu authentisch sein?
Die kurze Antwort: Ganz klar, ja. Und zwar, wenn man Authentizität nur um der Authentizität Willen „ausspielt“. Wenn unsere Schwächen zum PR-Gag werden, fühlen sich unsere Follower*innen manipuliert und wenden sich ab. Das passiert auch, wenn man sich in zu großem Kreis zu schnell zu verletzlich zeigt. Ich muss diesbezüglich immer wieder an eine junge Frau denken, der ich neu auf Instagram gefolgt bin, weil ich ihren Yogaweg spannend fand. Nach drei Wochen ging sie plötzlich live und erzählte unter Tränen davon, wie sie als Teenager vergewaltigt wurde. Mir wurde ganz komisch – ich war nicht bereit für diese Geschichte. Sie war mir zu intim. Brené Brown spricht hier von einem Flutlicht-Effekt: Wenn Menschen zu schnell zu viel von sich preisgeben, wirkt das abschreckend. Wir wenden uns ab, weil wir uns „geblendet“ fühlen. Too much information.
Wie kann ich abschätzen, ob ich zu authentisch bin?
Bei der Frage, ob du diesen authentischen, persönlichen Post gerade wirklich teilen solltest, hilft dir folgende Überprüfung:
Dient das meinen Follower*innen?
Wenn du mit mir zusammenarbeitest, kannst du an dieser Stelle noch ein Stück weiter gehen. Du kennst dein Warum und deine Wunschkundin ganz genau und darfst dich daher spezifischer Fragen: Erfüllt dieser Post mein Warum FÜR diesen Wunschkunden?
Wenn deine persönliche Geschichte deinen Follower*innen nicht dient, dann ist die Authentizität ein Selbstzweck. Du versuchst dich verletzlich zu zeigen, nur um nahbar zu sein. Das mag dir in Einzelfällen oder sehr niedrig verziehen werden. Wenn du es aber immer wieder tust, schreckst du deine Follower*innen ab, weil sie vom Flutlicht-Effekt geblendet werden oder sich manipuliert fühlen (siehe Antwort oben).
Sollte ich nur über das sprechen, was ich verarbeitet habe?
Hier ist die Antwort komplexer. Tatsächlich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass deine Authentizität für deine Follower*innen auch wirklich wertvoll ist, wenn du das, worüber du sprichst, auch verarbeitet hast. Wenn du mittendrin steckst in der Krise, ist das, was du von dir gibst, oft noch unsortiert und damit wenig hilfreich. Wenn du aus dem Tief herauskrabbelst, kannst du hingegen sehr viel reflektierter erzählen, wie es dir ergangen ist und was dir letztendlich geholfen hat. Ein solcher Beitrag ist zugleich authentisch UND hilfreich für deine Community.
Zudem kann es – gerade bei traumatischen Erfahrungen – auch gefährlich sein, sie zu offen zu teilen. Du weißt zum einen nicht, was du im Gegenüber triggerst. Und zum anderen könntest du auch Reaktionen bekommen, die dir nicht guttun, wenn du etwas noch nicht verarbeitet hast.
All das würde dafür sprechen, eine allgemeine Empfehlung „teile nur, was du verarbeitet hast …“ auszusprechen.
Jetzt kommt das große ABER, das ich zwar auch schon in der ersten Version dieses Artikels genannt hatte, aber erst jetzt in der Tiefe verstehe.
Es gibt Erlebnisse, die du vielleicht ein ganzes Leben lang nicht verarbeiten wirst. Und auch bei diesen kann es für deine Community wertvoll sein, wenn du sie teilst.
Mein Vater hat sich Anfang des Jahres das Leben genommen. Ich habe acht Monate lang auf meinem Instagram-Account zwar hin und wieder meine Trauer erwähnt – aber nie, dass es eben eine besondere Trauer ist. Denn ein Suizid ist nicht nur plötzlich und unerwartet. Es kommen Schuldgefühle hinzu und alles, was dir im Leben selbstverständlich erschien, muss neu hinterfragt werden. Es ist eine komplett neue Realität, die ich erst kennenlernen und begreifen muss. All das kommt zum Schmerz des Vermissens hinzu.
Meine Wunde ist also weit offen. Und trotzdem habe ich mich dazu entschieden, jetzt auch auf meinem offiziellen Account darüber zu sprechen – anlässlich des Welt-Suizid-Präventions-Tages.
Wie habe ich diese Entscheidung getroffen? Mein WARUM mit diesem Tabu zu brechen war größer als meine Angst davor, ob das auf mich als Unternehmerin abfärbt. Ich glaube, dass ich mit meiner Reichweite und treuen Community einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dass Menschen offener über ihre eigenen Suizid-Gedanken sprechen können und ihnen so geholfen werden kann. Und dass Angehörige von Suizid-Opfern offener über ihre Trauer sprechen können. Denn wie viele Menschen das wirklich betrifft, war mir, bevor ich es erlebt habe, selbst nicht klar. Hier kann ich zur Aufklärung beitragen.
Zudem hoffe ich, dass mein Teilen Menschen Mut macht, sich auch dann zu zeigen, wenn sie nicht zu 100 Prozent heile sind. Denn wer von uns ist das schon?
Du hast vielleicht selbst etwas Schlimmes erlebt UND etwas Wichtiges zu sagen. Dass du es nicht verarbeitet hast, soll dich auf keinen Fall davon abhalten, mit deiner Botschaft sichtbar zu werden. Denn die Welt braucht dich – auch MIT deinen Dellen und Verletzungen.
Widersprechen sich Authentizität und professionelles Auftreten?
Darf die Coachin für die schmerzfreie Periode selbst noch hin und wieder Periodenschmerzen haben? Und darf sie auch darüber sprechen auf ihren Social-Media-Kanälen oder glaube ich ihr dann nicht mehr, dass sie mir helfen kann?
Wenn du dir vorstellst, dass Authentizität und Professionalität zwei Seiten einer Skala sind, gilt es einen gewissen Sweet Spot zu treffen, der für jeden und jedes Thema ein bisschen woanders liegt – sicher aber irgendwo in der Mitte dieser Skala.
Ein Gedanke, der mir bei der Einschätzung ungemein hilft, ist: Menschen auf Social Media lieben es, andere Menschen auf ihrem Weg zu beobachten. Du musst noch nicht am Ziel sein, um den Eindruck zu vermitteln, dass du jemandem helfen kannst. Dein Sweet Spot liegt also an dem Ort, wo du ein Vorbild für deine Wunschkundin sein kannst (ja, dafür musst du sie gut kennen), weil du schon einige Schritte weiter bist als sie, aber zugleich bist du nicht so weit, dass sie das Gefühl hat, deine Perfektion niemals erreichen zu können. (Denn warum dann noch probieren?)
Also: Kommuniziere dein WARUM. Sprich darüber, WO du hin möchtest. Zeig dich als eine fortgeschrittene Person auf dem Weg zu dieser großen Vision. Mit Stolperern. Denn das macht dich nahbar und menschlich.
Oder um es wieder in kürzester Form in einem TikTok-Video zu sagen …
@hashtagbiancafritz Authentizi-was? ##Authentizität ##Vision ##socialmediamarketing ##marketingstrategie
♬ original sound - Nate Mollick
PS: Ein wirksamer Social-Media-Auftritt verbindet ein authentisches Auftreten mit Mehrwert und dem Bewerben deines Angebotes. Wie du das schaffst, beschreibe ich in meinem Buch „Mindful Social Media Marketing. Achtsam und erfolgreich kommunizieren“. Du erhältst es in deiner Lieblingsbuchhandlung, direkt beim Rheinwerk Verlag und natürlich auch bei Amazon.
PPS: Noch mehr zum Thema Authentizität – und zwar nicht nur im Marketing – erfährst du in den vielen tollen Artikeln zu Rosa Pessls Blogparade. https://www.rosa-pessl.at/blogparade-authentizitaet
Wer hier für dich schreibt

Zur Autorin:
Bianca Fritz ist Content-Mentorin und und Copywriting-Expertin mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung im Journalismus und Werbeagenturen. Sie unterstützt Selbständige, Unternehmer*innen, sowie NGOs und Stiftungen dabei, mit wertebasiertem Contentmarketing wirksam sichtbar zu werden.
Mit Bianca arbeiten.
[…] – nicht Firmen oder Marken. Zugleich struggeln viele Creator immer wieder mit der Frage, wie persönlich oder privat sie werden sollen. Die Frage, für welche Entwicklungen/Erlebnisse/Erfahrungen du auf deinem Berufsweg dankbar bist, […]
Ein herzliches Dankeschön für deine erfrischende Originalität! Dein Blog hebt sich nicht nur durch die Tiefe deiner Recherche ab, sondern auch durch die Einzigartigkeit deiner Perspektive. Jeder Beitrag ist wie eine Entdeckungsreise in neue Denkweisen.